KOLLEKTIVE RECHTSETZUNG UND PLATTFORMÖKONOMIE: NEUE PERSPEKTIVEN ZUSAMMENFASSUNG

 

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 I.             ALLGEMEINER ZUSAMMENHANG

Eine Vielfalt an Situationen

Die Plattformökonomie und das sog. Crowdworking sind aktuelle Themen, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sehr unterschiedlich rechtlich geregelt sind. Dies gilt insbesondere für das Tarifrecht in diesem Bereich. Die Vielfalt der Rechtstraditionen in Bezug auf Sozialpartnerschaft und kollektive Rechtssetzung in den Mitgliedstaaten spiegelt sich in den unterschiedlichen Ansätzen bei der (Nicht-)Regulierung von Tarifverhandlungen für Personen, die in der Plattformökonomie beschäftigt sind, wider.

Durch kollektive Rechtssetzung geschaffene Arbeitsbedingungen können jedoch nicht die einzige Regelungsquelle in der Plattformökonomie sein, vielmehr kommt es zu einem Zusammenspiel mit gesetzlichen Regelungen, bzw muss es zu einem solchen Zusammenspiel kommen. Es ist offensichtlich, dass eine ständige Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Regulierungsebenen erforderlich ist, dies gilt nicht nur innerstaatlich, sondern auch zwischen der europäischen und nationalen Ebene. Die Rolle der Verwaltung – dies wird nicht unbedingt durch die Gesetzgebung abgebildet – ist in vielen Ländern von großer Bedeutung und an Orten wie Bologna (Italien) werden mit der Entwicklung einer lokalen Charta bereits neue Wege beschritten.

Bei der Bewertung der unterschiedlichen Zugänge zu Tarifautonomie und -verhandlungen, die sich in der EU in Bezug auf Plattformökonomie zeigen, sind die folgenden Faktoren zu berücksichtigen:

Erstens hat sich die Plattformökonomie in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht gleich entwickelt. Obwohl es schwierig ist, den tatsächlichen Anteil der in diesem Segment Beschäftigten zu ermitteln, zeigen die Statistiken, dass es in einigen Mitgliedstaaten, wie Italien oder Spanien, eine erhebliche Anzahl an Plattformbeschäftigten gibt. Andererseits gibt es dieses Phänomen in anderen Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel Rumänien oder Ungarn, derzeit – soweit ersichtlich – überhaupt nicht.

Zweitens unterscheiden sich die Tätigkeiten, die unter der Bezeichnung „Plattformökonomie“ oder „Gig Economy“ ausgeübt werden. Es gibt viele unterschiedliche Möglichkeiten der Systematisierung. Die eindeutigste Klassifizierung erfasst sogenannte „Offline-Aktivitäten“, die auf dem Modell der „Arbeit auf Abruf“ beruhen, in einer Gruppe und sogenannte „Online-Aktivitäten“, die als Crowdwork bezeichnet werden können, in einer anderen Gruppe zusammen. Dieser Unterschied zwischen Offline- und Online-Aktivitäten hat unmittelbare Auswirkungen auf die Möglichkeiten, die Interessen dieser Beschäftigten auf kollektiver Ebene zu vertreten, wie auch auf die Erfassung dieser Beschäftigten durch kollektive Rechtssetzungsmechanismen. Darüber hinaus spielen bei Online-Aktivitäten länderübergreifende Wettbewerbsfaktoren eine Rolle, die bei der Konzeption künftiger gesetzlicher Regelungen nicht außer Acht gelassen werden dürfen.[2] Schließlich hat die Covid-19-Pandemie dazu geführt, dass in vielen Fällen die Unterscheidung zwischen Telearbeit und Crowdwork weniger trennscharf ist.

Rider, Fahrer, Reinigungskräfte und Hausangestellte sind einige der typischsten Beispiele für Offline-Tätigkeiten. Sie stehen bei Studien über die Plattformökonomie meist im Mittelpunkt. Das gleiche gilt, wenn es um das kollektive Arbeitsrecht in der Plattformökonomie geht. Die wichtigsten neuen Formen kollektiver Organisation und Interessenvertretung sind in diesen Bereichen zu finden: Die ersten erfolgreichen Erfahrungen mit Tarifverhandlungen gab es in diesen Wirtschaftszweigen. Dies lässt sich mit der Tatsache erklären, dass es sich um physische Leistungen handelt, die es schon lange gibt und die nun im Rahmen eines neuen Geschäftsmodells auf der Grundlage von Plattformen und Apps auf dem Markt angeboten werden. Menschliche Nähe schafft Gemeinschaft; das war der Weg zur Formulierung gemeinsamer Interessen und die Verbindung der in der Plattformökonomie per App „auf Abruf“ Beschäftigten mit den Gewerkschaften als traditionellen Akteuren.

Der Großteil an Aktivitäten, die als Crowdwork klassifiziert werden können, ist jedoch gegenüber der Entwicklung der kollektiven Seite des Arbeitsrechts weitgehend resistent. Bei der kollektiven Vertretung von Crowdworkern gibt es dieselben Probleme, die bereits bei der Telearbeit und im Homeoffice in Bezug auf die kollektiven Arbeitsbeziehungen feststellbar waren: Isolation führt zu einem Mangel an kollektiver Interessenäußerung, auch wenn einige Beispiele wie die "Turker"-Community als Meilensteine im Bereich der Interessenvertretung angesehen werden können. In jedem Fall sind die Bereiche Crowdwork und Online-Aktivitäten noch Neuland für Tarifverhandlungen.

Ein drittes Element der Vielfalt liegt in der Regelung des Beschäftigungsstatus von Plattformbeschäftigten. In den letzten Jahren wurde nicht nur in der Wissenschaft über ihre Eigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbstständige diskutiert, sondern es hat auch entsprechende Rechtsstreitigkeiten auf nationaler und europäischer Ebene gegeben. In einigen Fällen gibt es inzwischen höchstgerichtliche Entscheidungen. Dies war nicht nur in Deutschland der Fall, sondern zuvor in Frankreich, Italien, Spanien oder dem Vereinigten Königreich. Obwohl das Geschäftsmodell der Plattformen als Geschäftsvermittler, für die sie arbeiten, sehr unterschiedlich ist, haben die Gerichte diese Beschäftigten in der Regel als Arbeitnehmer mit einem Arbeitsvertrag eingestuft. In anderen Fällen wurde der Arbeitnehmerstatus jedoch verweigert. Dies war der Fall im EuGH-Beschluss in der Rechtssache Yodel; ein belgisches „tribunal de l'entreprise“ verweigerte den Uber-Fahrern anders als die britischen Gerichte den Arbeitnehmerstatus (n.b. jedoch, dass die britischen Gerichte bislang lediglich den „worker“-Status zusprachen, nicht hingegen den „employee“-Status).

Das derzeit am weitesten regulatorisch entwickelte Beispiel in Bezug auf den Status von Plattformbeschäftigten ist das spanische sog. Rider-Gesetz[3]. Danach besteht eine gesetzliche Vermutung, dass auf Liefer- und Vertriebstätigkeiten, die über eine digitale Plattform organisiert werden, das Arbeitsrecht anzuwenden ist. Dies wirkt sich automatisch auf Tarifverhandlungen aus, da diese Beschäftigten zwingend unter die jeweils anwendbaren Tarifverträge fallen. Dieses Rider-Gesetz ist ein erster kleiner Schritt auf dem Weg der Einbeziehung von Plattformbeschäftigten in die allgemeinen arbeitsrechtlichen Regelungen durch die Gesetzgebung.

 

 Auf dem Weg zu einem gemischten Tarifverhandlungsmodell? Der persönliche Geltungsbereich von Kollektivverträgen in der Plattformökonomie

Die Lage in Spanien bildet eine Ausnahme. In den meisten Ländern gibt es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung über den rechtlichen Status von Beschäftigten in der Plattformökonomie, was direkte Auswirkungen auf ihre Möglichkeiten zur Aufnahme von Tarifverhandlungen und für die Anwendbarkeit von Tarifverträgen hat.

Traditionell werden Tarifverträge abgeschlossen, um Arbeitsverhältnisse bzw Rechte und Pflichten daraus zu regeln. Auf der Arbeitnehmerseite beschränkt sich der persönliche Geltungsbereich meist auf Arbeitnehmer, während Selbstständige im Allgemeinen von Tarifverhandlungen ausgeschlossen waren und sind. Eine Ausnahme dazu sind Spezialfälle in einigen Ländern wie Deutschland (vgl. § 12a TVG für arbeitnehmerähnliche Selbständige). Im Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung hat der EuGH in der Rechtssache FNV Kunsten festgestellt, dass die einzigen Tarifverträge, die nicht gegen das EU-Wettbewerbsrecht verstoßen, solche sind, die zwischen „Sozialpartnern“ ausgehandelt werden. Allerdings hat der Gerichtshof in der Rechtssache FNV Kunsten auch entschieden, dass Tarifverträge für Dienstleister die „sich in einer vergleichbaren Situation wie die Arbeitnehmer befinden“[4], nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 101 AEUV fallen. Darüber hinaus kann ein Dienstleister seine Eigenschaft als Unternehmen verlieren, „wenn er sein Verhalten auf dem Markt nicht selbständig bestimmt, sondern vollkommen abhängig von seinem Auftraggeber ist, weil er keines der finanziellen und wirtschaftlichen Risiken aus dessen Geschäftstätigkeit trägt und als Hilfsorgan in sein Unternehmen eingegliedert ist“[5]. Dies scheint eine Auslegung zugunsten des Abschlusses von Tarifverträgen für „mit Arbeitnehmern vergleichbare Dienstleister“ zu ermöglichen, ohne gegen das EU-Kartellrecht zu verstoßen. Es bleiben jedoch Unsicherheiten bestehen, beispielsweise darüber, welche Dienstleister Arbeitnehmern tatsächlich vergleichbar sind. Das Wettbewerbsrecht wird daher als eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem neuen Tarifverhandlungsmodell mit einem erweiterten persönlichen Geltungsbereich angesehen.

Angesichts dieser Unsicherheiten hat die Europäische Kommission vor kurzem einen Konsultationsprozess zur Frage der Tarifverträge für Solo-Selbstständige eingeleitet.[6] Zentrale Frage ist, ob der Geltungsbereich des EU-Wettbewerbsrechts so weit eingeschränkt werden sollte, dass Tarifverträge, die für (eine noch zu definierende Gruppe von) Selbstständigen abgeschlossen werden, von den Regelungen des EU-Wettbewerbsrechts ausgenommen werden sollten. Nach Ankündigungen der Kommission soll es Ende 2021 eine Initiative infolge der Konsultation geben. Sie könnte eventuell zu einem Paradigmenwechsel führen.

Abschließend lassen sich zwei Hauptfragen in Bezug auf den persönlichen Geltungsbereich von Tarifverhandlungen für Plattformbeschäftigte formulieren. Erstens unterscheiden sich die Situationen in den einzelnen Mitgliedstaaten stark voneinander. Während in vielen Mitgliedstaaten Tarifverträge bisher nur für Arbeitnehmer abgeschlossen werden können, besteht in anderen die Möglichkeit, Tarifverträge auch für solche Personen abzuschließen, die als Arbeitnehmerähnliche eingestuft werden können. In anderen wiederum ist es möglich, Tarifverträge auch auf Beschäftigte ohne Arbeitnehmerstatus für anwendbar zu erklären. Wieder andere Mitgliedstaaten haben kollektive Rechtsetzungsmodelle eingeführt, die nicht die gleiche Wirkung haben wie herkömmliche Tarifverträge. Das Hauptproblem ist jedoch, dass der Personenkreis, auf den sich der Geltungsbereich der Tarifverträge – grundsätzlich – erstreckt, nicht einheitlich definiert ist. Dies steht in direktem Zusammenhang mit dem zweiten Problem, der Wechselwirkung zwischen den nationalen Regelungen zur Tarifautonomie und dem EU-Wettbewerbsrecht. Aus teleologischer Perspektive kann die Rechtsprechung des EuGH so ausgelegt werden, dass Tarifverträge, die für arbeitnehmerähnliche Dienstleister abgeschlossen werden, nicht unter das EU-Wettbewerbsrecht fallen. Es gibt jedoch keine Definition für solche arbeitnehmerähnlichen Dienstleister, was den nationalen Sozialpartnern und auch den nationalen Gesetzgebern die Einhaltung des EU-Rechts bei der Erweiterung des persönlichen Geltungsbereichs von Tarifverhandlungen erschwert.


 II.           SUPRANATIONALE QUELLEN

Die Rolle des Unionsrechts

Unabhängig davon, in welchem Umfang der Gesetzgeber auf dem Gebiet der Plattformökonomie tätig wird, ist klar, dass die Mitgliedstaaten und die nationalen Sozialpartner die Hauptakteure in diesem Bereich sein werden. Seit Beginn der COGENS-Forschungsarbeiten ist jedoch das Eingreifen in den Bereich der Plattformökonomie durch die EU immer wahrscheinlicher geworden und bereits im Februar 2021 leitete die Europäische Kommission einen Konsultationsprozess über mögliche Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen in Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie ein.

Eine mögliche Richtlinie, die Plattformarbeit auf EU-Ebene regelt, könnte, wie in der Konsultation dargelegt, Tarifverhandlungsrechte für Arbeitnehmer in der Plattformökonomie vorsehen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Europäische Union Rechtsvorschriften zum kollektiven Arbeitsrecht erlassen könnte, wie in Art. 153 Abs. 1 lit. f AEUV erwähnt. Die in Art. 153 Abs. 1 lit. b AEUV verankerte Kompetenz bietet die notwendige Rechtsgrundlage, sollten nur die Arbeitsbedingungen geregelt werden. Die Erwähnung der „Vertretung und kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen“ in Art.153 Abs. 1 lit. f AEUV bietet jedoch darüber hinaus eine solide Grundlage für die Weiterentwicklung des kollektiven Arbeitsrechts. Dies setzt natürlich voraus, dass im Rat Einstimmigkeit über die Annahme einer Richtlinie erzielt werden kann.

Diese mögliche Entwicklung muss jedoch nationale Zuständigkeiten und Traditionen in weitgehend respektieren. Die Richtlinie 2002/14/EG ist dafür ein gutes Beispiel, denn sie schafft eine gemeinsame Grundlage, die in allen Mitgliedstaaten problemlos angewendet werden kann. Wer etwa konkret als Arbeitnehmervertreter gilt, müsste den mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten überlassen werden. Die Schaffung spezifischer Regeln für Arbeitnehmer in der Plattformökonomie, wie etwa Vorschriften über „digitalisierte“ Wahlgremien oder über eine konkrete Zuordnung zu einer bereits bestehenden Arbeitnehmervertretung, sind durchaus geeignete Inhalte für eine supranationale Regelung.

Hinsichtlich der möglichen Kompetenzgrundlage könnte die Union jedoch auch auf andere Vorschriften zurückgreifen. Art. 115 AEUV erlaubt - wie schon seit 1957 unter dem damaligen Art. 100 EWG-Vertrag, „die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken“. Auf dieser Rechtsgrundlage könnte die EU eine Richtlinie verabschieden, die für Menschen, die in der Plattformökonomie beschäftigt sind, unabhängig von ihrer Qualifikation nach nationalem Recht ein Mindestmaß an Rechten schafft. Dies würde die nationalen Kompetenzen respektieren, Rechte garantieren und eine supranationale Antwort auf eine supranationale Situation geben. Auch Richtlinien, die auf Grundlage von Art. 115 AEUV erlassen werden, bedürfen jedoch der Einstimmigkeit im Rat.

 

Menschenrechtliche Perspektive: Das Recht auf Tarifverhandlungen als Menschenrecht

In vielen internationalen und europäischen Quellen wird das Recht auf Tarifverhandlungen als Menschenrecht und somit als soziales Grundrecht garantiert. Dazu gehören der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), mehrere Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO), insbesondere die Übereinkommen Nr. 87 und 98, Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder Art. 6 Absa. 2 der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC). Im Hinblick auf die Tarifverhandlungsrechte für Plattformbeschäftigte ist Art. 6 Abs. 2 der Revidierten Europäischen Sozialcharta (RESC) von besonderer Bedeutung: Er bedeutet nicht nur, dass alle EU-Mitgliedstaaten Art. 6 Abs. 2 ESC akzeptiert haben und an ihn gebunden sind und ihn daher einhalten müssen, sondern der Europäische Ausschuss für soziale Rechte hat in seiner kürzlich behandelten Rechtssachen, Irish Congress of Trade Unions (ICTU) gegen Irland[7], festgestellt, dass das entscheidende Kriterium für die Gewährleistung der Tarifverhandlungsrechte in der Frage besteht, „ob eher ein Machtungleichgewicht zwischen den Anbietern und den Auftraggebern der Arbeitsleistungen gegeben ist“

Aus dieser Entscheidung folgt, dass das Recht auf Tarifverhandlungen nicht nur angestellten Beschäftigten zusteht, sondern allen Anbietern von Arbeitsleistungen, einschließlich Solo-Selbständigen, die keinen wesentlichen Einfluss auf den Inhalt der Vertragsbedingungen haben. Der Ausschuss unterstreicht, dass diese Personen „die Möglichkeit haben müssen, das Machtungleichgewicht durch Tarifverhandlungen auszugleichen“. Zur Verdeutlichung könnte man hinzufügen, dass dies unabhängig vom (formalen) Status des Anbieters der Arbeitsleistungen gilt. Mit anderen Worten: Selbst in Fällen, in denen ein Plattformbeschäftigter (formell) selbständig ist, hat auch er nach einer teleologischen und menschenrechtskonformen Auslegung das Recht auf Tarifverhandlungen, wenn ein Machtungleichgewicht zwischen ihm und dem Auftraggeber der Arbeitsleistung besteht.

III.          AKTEURE

(Alte) Gewerkschaften und neue Interessenvertretungen

In den meisten Ländern folgt der bestehende Rechtsrahmen der Logik der alten Arbeitsorganisationsmodelle. Daher ist die Durchsetzung von kollektiven Rechten für Menschen, die in der Plattformökonomie beschäftigt sind, vergleichsweise schwierig. Eine Verhandlungsstruktur, die auf dem Ansatz eines einzelnen Arbeitsplatzes an einem festen Arbeitsort und eines einzelnen Arbeitgebers beruht, führt in Verbindung mit der in vielen Mitgliedstaaten geltenden Mehrheitsregel zu strukturellen Schwierigkeiten bei der Solidarisierung unter Plattformbeschäftigten auf der einen Seite und zwischen Plattformbeschäftigten und anderen Arbeitnehmern einer Verhandlungseinheit. Dies gilt insbesondere in den Mitgliedstaaten, in denen Tarifverhandlungen auf Betriebs- oder Unternehmensebene Vorrang vor Tarifverhandlungen auf Branchenebene haben. Ohne gesetzgeberische Maßnahmen bietet dieses dezentralisierte Modell in vielen Ländern keinen Anreiz für die Gewerkschaften, Plattformbeschäftigte zu unterstützen. Die Diskussion über die Rechte von Plattformbeschäftigten kann eine Gelegenheit sein, bestehende Verhandlungsmodelle zu überdenken und auf Branchenebene zu fördern.

In einer solchen Situation scheinen traditionelle Interessenvertretungen nach einem Jahrzehnt der langsamen Anpassung am besten zur Zusammenführung traditioneller Rechte und neuer Technologien in der Lage zu sein. Eine Analyse der Praxis zeigt jedoch, dass Plattformbeschäftigte manchmal zögern, traditionellen Gewerkschaften beizutreten. Außerdem waren die Gewerkschaften selbst, zumindest anfangs, nicht auf die Bewältigung dieser neuen Herausforderungen vorbereitet. So genannte „smarte Gewerkschaften“ könnten die Lösung sein und gleichzeitig auch zu einer gewissen Konsolidierung führen; im Ergebnis würden dann wohl „Apps mit Apps“ konkurrieren: Plattformbeschäftigte könnten gerade durch das Fruchtbarmachen jener Technologien, derer sich Plattformen bedienen, im Hinblick auf ihre kollektiven Rechte sensibilisiert und leichter erreicht werden. Die digitale Komponente der Gewerkschaftsarbeit sollte in einem Geschäftsmodell, das auf eben jener basiert, nicht ignoriert werden.

Neue Interessenvertreter bringen auch neue Formen kollektiver Aktivitäten und Intervention mit sich, doch ist es diesen neuen Zusammenschlüssen – soweit ersichtlich – noch nie gelungen, einen Tarifvertrag abzuschließen. Sie haben neue Formen des Ausdrucks von Arbeitskonflikten und Forderungen hervorgebracht, wie Flashmobs, Fahrraddemonstrationen oder Blockaden. Sie haben im Ergebnis tatsächlich Aufmerksamkeit erzielt, aber sie werden derzeit nicht als ernstzunehmende und geeignete Verhandlungspartner wahrgenommen.

Vereinbarungen auf Branchen- oder Unternehmensebene

Das wahrscheinlichste Szenario für Tarifverhandlungen in der Plattformökonomie besteht in der Beibehaltung der derzeitigen Systeme, deren Wirksamkeit jedoch weitgehend von der rechtlichen Qualifikation der Plattformbeschäftigten abhängen wird. Das Dilemma bezüglich der Verhandlungsebene bleibt ungelöst: Ist der Abschluss von Vereinbarungen auf Betriebs- bzw Unternehmens- oder auf Branchenebene vorzugswürdig? Die Antwort auf diese Frage hängt in hohem Maße von der Stärke der jeweiligen Verhandlungspartner ab.

Das aktuelle Bild der Tarifverträge zeigt, dass die ersten Branchentarifverträge für die Plattformökonomie, z. B. für das Hotel- und Gaststättengewerbe in Spanien[8], von Gewerkschaften (und Arbeitgeberverbänden) abgeschlossen wurden, die die Besonderheiten dieser Tätigkeit nicht berücksichtigten. Sie erweiterten lediglich den persönlichen Anwendungsbereich bestehender Vereinbarungen und dehnten das bestehende System auf die Plattformökonomie aus.

Die Vereinbarung zwischen der dänischen Gewerkschaft 3F und Dansk Erhverv[9], der dänischen Handelskammer, folgte in Bezug auf die Vertreter ebenfalls dem alten Modell, ging aber einen Schritt weiter, da sie speziell für Beschäftigte in der Plattformökonomie ausgehandelt wurde. Ursprünglich galt die Vereinbarung nur für die Beschäftigten von Just Eat, d. h. es handelte sich in Bezug auf den persönlichen Geltungsbereich im Wesentlichen um eine Vereinbarung auf Unternehmensebene. Später wurde sie jedoch auf andere Auslieferungsunternehmen ausgedehnt. Daher kann sie als erste echte Branchenvereinbarung für die Plattformökonomie angesehen werden. In Österreich wurde ebenfalls ein Tarifvertrag für Fahrradboten abgeschlossen, und zwar zwischen den traditionellen Vertretern, der Wirtschaftskammer als Arbeitgeberorganisation und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund auf der anderen Seite. Der persönliche Geltungsbereich ist jedoch auf Arbeitnehmer beschränkt.

Das dritte Beispiel ist das am weitesten reichende: Die italienische landesweite Vereinbarung über die Zustellung von Gütern durch Rider[10]. Die Verhandlungspartner sind eine neue spezialisierte Arbeitgeberorganisation, AssoDelivery, die von Plattformen konstituiert wird, und eine traditionelle Gewerkschaft, UGL, mit ihrer besondere Abteilung UGL Rider. Erwähnenswert ist auch der persönliche Geltungsbereich, der sich nur auf selbständige Rider erstreckt. Diese Vereinbarung zeigt, dass die Akteure in der Lage sind, sich anzupassen und zu verändern, wenn sie willens sind zu verhandeln.

Auf der anderen Seite gibt es einige Vereinbarungen auf Unternehmensebene, wie die zwischen der dänischen Gewerkschaft 3F und Hilfr aus dem Jahr 2018[11] oder die im Vereinigten Königreich zwischen der Gewerkschaft GMB und Hermes aus dem Jahr 2019[12]. Das Muster ist in Bezug auf die Interessenvertretung der Arbeitnehmerseite jeweils dasselbe: Traditionelle Vertreter sind in ihrer angestammten Rolle erfolgreich, wenn sie Druck auf die andere Seite der Interessenvertretung ausüben können.

Unabhängig von der Verhandlungsebene können klare Schlussfolgerungen gezogen werden. Bei den wenigen Tarifverträgen, die in der Plattformökonomie abgeschlossen wurden, waren die traditionellen Gewerkschaften unter Einhaltung der bisherigen Regeln die Hauptakteure auf Beschäftigtenseite.

Letztlich ist die Rolle der Arbeitgeberverbände die undurchsichtigste von allen. Es handelt sich nicht mehr um einen „Klassenkonflikt“, sondern um Interessenkonflikte, da die traditionellen Unternehmen und die neuen Plattformen kaum gemeinsame Positionen und Perspektiven haben. Nach Ansicht vieler Beteiligter haben die Plattformen kein Interesse an Tarifverhandlungen, aber der italienische Fall zeigt, dass es Ausnahmen gibt.

 

Neuartige flexible Regelungsinstrumente

In mehreren Ländern, wie Italien, Frankreich oder Deutschland, ist ein bemerkenswertes Phänomen zu beobachten: die Entstehung von Dokumenten oder Institutionen im Bereich der Plattformökonomie, die darauf abzielen, dieses Marktsegment und die Arbeitsbedingungen dort zu beeinflussen. Es handelt sich dabei nicht um Tarifverhandlungsinstrumente, aber angesichts ihrer Originalität verdienen einige von ihnen eine nähere Betrachtung auf der Suche nach einem „dritten Weg“, den manche befürworten.

Eines der ersten solcher Dokumente war die sogenannte Bologna-Charta, die „Carta dei diritti fondamentali dei lavoratori digitali nel contesto urbano“ aus dem Jahr 2018, die tatsächliche keine rechtliche Bindungswirkung entfaltet. Sie besteht aus zwölf Artikeln, die darauf abzielen, eine sichere und menschenwürdige Beschäftigung zu fördern, die aber gleichzeitig mit der Anpassungsfähigkeit des digitalen Arbeitsmarktes vereinbar ist und die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Dienstleistern gewährleistet. Die Interessenvertretung der Beschäftigten und Arbeitskämpfe werden in der Charta behandelt, Tarifverhandlungen werden dagegen nicht erwähnt. In jedem Fall schafft die Bologna-Charta durch die Anerkennung dieser beiden wesentlichen Instrumente – Schaffung einer Interessenvertretung und Anerkennung kollektiver Druckmittel – ein geeignetes Umfeld, in dem sich ein Tarifverhandlungsprozess entwickeln könnte.

In Deutschland lassen sich mehrere Beispiele für derartige Entwicklungen finden, wobei der Vorstoß im Bereich des Crowdworking besonders interessant ist. Zum einen gibt es den Verhaltenskodex „Paid Crowdsourcing for the Better“, der von mehreren Unternehmen unterzeichnet wurde und in dem sie sich einseitig freiwillig selbstverpflichten, eine Reihe von dort formulierten Rechten zu respektieren und zu gewährleisten. Er enthält keinen Hinweis auf Tarifverhandlungen, ist aber unter gewerkschaftlicher Beteiligung entwickelt bzw. fortgeschrieben worden und nähert sich sehr stark an die Inhalte an, die später Gegenstand von Tarifverhandlungen werden könnten. Das bemerkenswerteste Ergebnis ist die Schaffung eines eigenen freiwilligen außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismus nach Art einer Schiedsgerichtsbarkeit, ebenfalls mit gewerkschaftlicher Beteiligung der IG-Metall. Dieser Mechanismus dient zwar nur der Lösung individueller Streitfälle, im Ergebnis erinnert der Verhaltenskodex jedoch zu einem gewissen Grad an andere Ergebnisse von Tarifverhandlungen.

Erwähnenswert ist auch die „Frankfurter Erklärung zu plattformbasierter Arbeit“, die von sieben Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen aus Österreich, Deutschland, Dänemark, Schweden und den Vereinigten Staaten mit Unterstützung eines großen technischen Beraterteams unterzeichnet wurde. Zu den wesentlichen Forderungen gehören allen voran die Einhaltung bestehender Tarifverträge und, vielleicht noch viel wichtiger, das Recht der Beschäftigten zur gewerkschaftlichen Organisation. Eine besonders relevante Konsequenz dieses Rechts ist die Fähigkeit, Verhandlungen zu führen und die Bestätigung, dass Plattformbetreiber geeignete Verhandlungspartner sind.

 

IV.          INHALTE

Zwischen Vertretern der Wissenschaft und der Praxis besteht ein bemerkenswerter Konsens darüber, dass die Frage nach dem Inhalt von Tarifverhandlungen den Sozialpartnern überlassen werden sollte. Eine gesetzliche Regelung der Gegenstände wird in diesem Bereich nicht für notwendig erachtet.

Die Analyse der tatsächlichen Inhalte kollektiver Rechtsetzungsmechanismen in der Plattformökonomie zeigt ein sehr vielfältiges Bild. Grundsätzlich kann zwischen abstrakten, allgemeinen und spezifischen Inhalten unterschieden werden.

Die erste Kategorie bezieht sich auf Fälle, in denen Beschäftigte in der Plattformökonomie in bestehende Branchentarifverträge einbezogen wurden, wie dies in Spanien im Hotel- und Gaststättengewerbe der Fall ist. Diese Tarifverträge enthalten keine spezifischen materiellen Regelungen für Plattformbeschäftigte, sondern haben lediglich ihren persönlichen Anwendungsbereich erweitert. Eine inhaltliche Analyse ist daher nicht weiterführend.

Die zweite Kategorie von Inhalten umfasst traditionelle Regelungsthemen, die in der Plattformökonomie eine besondere Bedeutung haben. Die prominentesten Beispiele sind Entgelt und Arbeitszeit: Themen, die auf dem Arbeitsmarkt schon immer relevant waren, die aber neue Charakteristika aufweisen, wie etwa die Rolle von Apps bei deren Festlegung.

Der erste Firmentarifvertrag, der von der dänischen Gewerkschaft 3F und dem Unternehmen Hilfr Aps unterzeichnet wurde, bietet ein gutes Beispiel für diese Situation, da er viele traditionellen Inhalte abdeckt. In Bezug auf die Entgelte enthält er beispielsweise folgende Regelung: „Über die Plattform kann der Beschäftigte seine individuelle Vergütung festlegen. Diese kann niemals niedriger sein als das in diesem Tarifvertrag festgelegte Entgelt." Ein ähnlicher und sogar noch detaillierterer Inhalt findet sich in dem italienischen Tarifvertrag auf nationaler Ebene. Diese Klauseln sind nicht innovativ, aber sie sind Ausdruck der Optionen für Tarifverträge im Bereich der Plattformökonomie. In den Vereinbarungen finden sich überdies Regelungen zu den neuen technischen Aspekten zur Beendigung des Arbeitsvertrags: „Die Löschung oder Sperrung des Profils von Plattformbeschäftigten gilt als Entlassung“, heißt es in der dänischen Vereinbarung. In der nationalen italienischen Vereinbarung finden sich ähnliche Inhalte. Es ist klar zu erkennen, dass diese Vereinbarung bestehende Strukturen aufgreift. Tatsächlich sehen die meisten Plattformen ein weit gefasstes Recht vor, dem Beschäftigten zu kündigen oder die Zusammenarbeit zu beenden, in der Regel ohne die Pflicht zur Angabe von Gründen oder unter Angabe nur vager Kriterien (z. B. unter Bezugnahme auf die Bewertung, ohne festzulegen, welcher Maßstab für eine akzeptable Bewertung anzulegen ist) und ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist. Tarifverhandlungen können ein nützliches Instrument zum Schutz der Beschäftigten sein, da sie diese weitreichenden Befugnisse begrenzen können.

Ein sehr wichtiger Bereich, der adaptiert werden muss, ist die Arbeitszeit. Das Arbeitsrecht soll plattformbeschäftigte Arbeitnehmer und Plattformen als Arbeitgeber nicht daran hindern, die Vorteile moderner Technologien zu nutzen, dabei sind allerdings Mindestgewährleistungen in Bezug auf Arbeitszeiten für alle Beschäftigten erforderlich. Das heißt nicht, dass alle traditionellen Instrumente und rechtlichen Grenzen ohne Anpassung angewendet werden können. Die Anpassung sollte jedoch nicht als Ausnahme von der Anwendung bestimmter Grundsätze des Arbeitszeitrechts verstanden werden: Bloß technische Gründe sollten nicht zur Nichtanwendung arbeitszeitrechtlicher Grundsätze führen. Tarifverhandlungen können ein geeignetes Mittel sein, um die Erfordernisse der neuen Arbeitsformen und die Regelung der Arbeitszeit miteinander in Einklang zu bringen. Tarifverträge können angemessenen Schutz gegen eine unangemessene arbeitgeberorientierte Flexibilität bieten. Sie erlauben im Vergleich zu individuellen Verhandlungen ein transparenteres und formalisiertes Verfahren zur Festlegung von Regelungen.

Anders als die Legislative sind die Sozialpartner in Tarifverhandlungen mit den Bedürfnissen der betreffenden Tätigkeiten oder der Branche vertraut und die Verhandlungen ermöglichen es, schnell und flexibel auf sich ändernde Marktanforderungen zu reagieren. Das Unionsrecht räumt den Sozialpartnern und Tarifverhandlungen bei der Regelung von Arbeitszeiten einen erheblichen Spielraum ein. Artikel 18 der EU-Arbeitszeitrichtlinie ermöglicht es, in Tarifverträgen Abweichungen und Ausnahmen von den Vorschriften über tägliche Ruhezeiten, Pausen, wöchentliche Ruhezeiten, die Dauer von Nachtarbeit und Bezugszeiträume festzulegen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass tarifvertragliche Arbeitszeitregelungen an digitalen Arbeitsplätzen von praktischer Relevanz sind. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie die Parteien die Ausnahmeklausel der Arbeitszeitrichtlinie werden nutzen können, um spezifische Regelungen zu treffen, die genau auf Plattformbeschäftigte – auch im Rahmen von  Arbeitsverhältnissen – zugeschnitten sind.

An den Inhalten der dritten Kategorie besteht ein besonderes Erkenntnisinteresse. In diesem Bereich können Tarifverhandlungen ein Instrument der Innovation sein, da sie sich mit Themen befassen, die bisher nicht zu den traditionellen Gegenständen tarifautonomer Regelungen gehörten. Mit dem kürzlich erlassenen französischen Décret nº 2021-952[13] wurde beispielsweise eine Regelung über die Daten von Plattformbeschäftigten und den individuellen Zugang zu diesen Daten getroffen. Die Bewertungen, die Beschäftigte erhalten, und deren Kontrolle können in einem weiteren Schritt auch durch Tarifverträge geregelt werden. Besonders hervorzuheben ist dabei die Möglichkeit der Verhandlung über den von der Plattform verwendeten Algorithmus und dessen Überwachung sowie über das Bewertungssystem für die Beschäftigten.

Die spanische Gesetzgebung hat bereits zuvor einen möglichen Weg für eine kollektive Entwicklung eröffnet, da das sog. Rider-Gesetz das Recht der Arbeitnehmervertreter vorsieht, vom Unternehmen über die Parameter, Regeln und Anweisungen informiert zu werden, auf denen die Algorithmen oder Systeme der künstlichen Intelligenz beruhen, die sich auf Entscheidungen bezüglich der Arbeitsbedingungen, des Zugang zur Beschäftigung und die Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses auswirken können, einschließlich des Profilings“. Dies ist ein erster und begrenzter Schritt, da hier gesetzlich Informationspflichten und Auskunftsrechte geregelt werden. In der Sache sind die Regelungen allerdings durchaus zukunftsweisend.

In jedem Fall muss das Recht auf Transparenz der Entscheidungen und Ergebnisse von KI-Systemen und über die zugrundeliegenden Algorithmen gewährleistet werden, wobei es ein Recht geben muss, sich gegen automatisierte Entscheidungen von Algorithmen Einspruch zu wenden und sie von einem Menschen überprüfen zu lassen. In von den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträgen könnten sowohl die automatisierte Erfassung von Daten im Zusammenhang mit der Einstellung und Beförderung von Beschäftigten als auch die Kontrolle der Beschäftigten über die von diesen Systemen erzeugten Daten nach Beendigung des Vertragsverhältnisses geregelt werden.

Die Sozialpartner aller Branchen könnten in dieser Frage eine Vorreiterrolle übernehmen. Im Grünbuch über die Zukunft der Arbeit in Portugal[14] ist beispielsweise ein Ansatz, insbesondere die Regulierung der Verwendung von Algorithmen im Rahmen von Tarifverhandlungen zu fördern. Dabei sind die Sozialpartner einzubeziehen, um sicherzustellen, dass die Frage auf tarifvertraglicher Ebene behandelt wird, um so eine angemessene Nutzung von KI zu gewährleisten und den spezifischen Bedürfnissen der jeweiligen Branche gerecht zu werden.

Tarifverträge könnten auch Grundsätze stärken um neue Risiken im Zusammenhang mit der Nutzung autonomer KI-Verfahren zu minimieren. Sie könnten insbesondere, Vorgaben zur Gewährleistung des Schutzes der Privatsphäre und personenbezogener Daten, zur Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung, zu anderen ethisch relevanten Fragen, zur Transparenz und zum Einsatz algorithmenbasierter Systeme treffen, und zwar sowohl in Bezug auf die Auswahl von Bewerbern auf eine Stelle als auch in Bezug auf die Durchführung des Arbeitsvertrags und die Überwachung der beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers. Tarifverträge könnten außerdem die Beratung der Arbeitnehmer durch die Gewerkschaften über Umsetzung, Entwicklung und Einführung von KI-Systemen regeln.

 

V.           FAZIT

Die Forschung im Rahmen des Projekts hat gezeigt, dass es in den Mitgliedstaaten bereits kollektive Rechtsetzungsmechanismen für Arbeitnehmer in der Plattformökonomie gibt, auch wenn es Unterschiede im Hinblick auf den persönlichen Geltungsbereich der Vereinbarungen, die beteiligten Akteure, die geregelten Inhalte und die Wirkungen der Instrumente gibt.

Da die Plattformökonomie und insbesondere Crowdworking ein länderübergreifendes Phänomen ist, bedarf es einer Regelung auf EU-Ebene. Natürlich müssen die Maßnahmen der Union im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten in Bezug auf Beschäftigungsverhältnisse stehen. Dennoch  bietet das Primärrecht entsprechende Kompetenzgrundlagen im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts.

Auf nationaler Ebene ist es den traditionellen Interessenvertretungen gelungen, Tarifverträge im Bereich der Plattformökonomie abzuschließen. Während die europäischen Sozialpartner tarifautonomen Lösungen gegenüber eher zurückhaltend sind, scheinen die Gewerkschaften „vor Ort“ die Herausforderung der kollektiven Regelung der Plattformökonomie angenommen zu haben. Die neuen Interessenvertreter haben ihre Versprechen hingegen noch nicht erfüllt. Die Forschungsarbeit im Rahmen des Projekts hat auch gezeigt, dass Vereinbarungen im Allgemeinen auf Unternehmensebene von einzelnen Arbeitgebern und auf Branchenebene von traditionellen Arbeitgeberverbänden abgeschlossen wurden. Um eine gemeinsame Rechtsgrundlage zu schaffen, scheinen jedoch Vereinbarungen auf Branchenebene am besten geeignet zu sein.

In Bezug auf den Inhalt von Tarifverträgen in der Plattformökonomie sollten Tarifverhandlungen als Instrument zur Festlegung detaillierter Regelungen genutzt werden. Es gibt spezifische Fragen, wie beispielsweise die Regulierung der verwendeten Algorithmen, die sich vor allem branchenspezifisch stellen. Daher scheint eine zwischen den Sozialpartnern vereinbarte maßgeschneiderte Lösung angemessener zu sein als allgemeine, gesetzlich festgelegte Regelungen.



[1] Dieser Beitrag enthält eine Zusammenfassung des von der Europäischen Union finanzierten Forschungsprojekts COGENS (VS/2019/0084). Der Inhalt spiegelt allein die Meinung der Verfasser wider und die Europäische Kommission haftet nicht für die mögliche Verwendung der darin enthaltenen Angaben. Die Autoren sind José María Miranda Boto und Elisabeth Brameshuber mit Beiträgen von Gábor Kártyás, Barbara Kresal, Teresa Coelho Moreira, Daniel Pérez del Prado und Kübra Doğan Yenisey und Materialien, die von den übrigen Mitgliedern des Projektteams zur Verfügung gestellt wurden.

[2] S dazu die Second Stage Consultation der EU-Kommission zu “improving the working conditions in platform work” C(2021) 4230 final 18.

[4] EuGH, Urt. v. 4.12.2014, Rs. C-413/13, Rn. 42.

[5] EuGH, Urt. v. 4.12.2014, Rs. C-413/13, Rn. 33.

[6] Ref. Ares(2021)102652 - 06/01/2021.

[7] Beschwerde Nr. 123/2016, Entscheidung in der Hauptsache vom 12. September 2018.

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